Nein, in diesem Zusammenhang hatte ich keine Suizidgedanken oder ähnliches. Auch wenn ich derartiges durchaus kenne (was ich hier jedoch nicht ausführen werde).
Mein Vater ist im März 2005 überraschend gestorben - Hinterwandherzinfarkt ohne irgendeine Vorankündigung. Er war der deutlich fittere von beiden. Meine Mutter litt schon lange unter Parkinson, den Folgen eines Schlaganfalls, Krampfadern mit manchmal auch offenen Beinen usw. Nach dem Tod meines Vaters hat sie sich aufgegeben, ihr ging es zunehmend schlechter. Im folgenden halben Jahr war sie dreimal im Krankenhaus, einmal in Reha, dazwischen habe ich sie zu Hause gepflegt, neben meinem Vollzeitjob und der Versorgung des Hauses, unterstützt nur durch meine Schwester. Nachtwachen neben dem Babyfon mit mehrmaligem Aufstehen, Hilfe beim Toilettengang, das Mitansehen von Verwirrtheit, Schmerzen, Tränen und Depressionen, das tägliche Hören von "ich will sterben" mit eingeschlossen. Den Luxus, selber aufzugeben und zu fallen, den konnte ich mir nicht leisten. Also habe ich es durchgestanden, irgendwie. Ich weiß nicht wie.
Im August 2005 hat meine Mutter dann ihr Sterben beendet. Ich war froh darum, dass sie nicht länger leiden mußte. Sie wollte ja gehen. Und ich war schon lange am Ende meiner Kraft. Als ich sie zum dritten Mal ins Krankenhaus gebracht hatte, habe ich darum gebetet, dass Gott sie endlich gehen läßt. Auch meinetwegen. Nach weiteren zwei Tagen hat er sie dann erlöst.
Wie ich damit umgehe? Ich vermisse meine Eltern immer noch. Ich wohne in meinem Elternhaus, habe ihre Gebrauchsgegenstände zum Teil in Verwendung. Auch die Kleiderschränke sind erst zum Teil ausgeräumt, weil ich mit der Arbeit einfach nicht durchkomme. Gerade in letzter Zeit fühle ich mich oft allein. Aber gleichzeitig weiß ich, dass es gut so ist, wie es gekommen ist. Mein Vater ist ohne Schmerzen, ohne Leidenszeit gestorben, so wie er es sich immer gewünscht hatte. Er hatte immer Angst, hinfällig und womöglich pflegebedürftig zu werden. Meine Mutter mußte ihn nicht zurücklassen. Und ohne ihren Mann wollte sie nicht leben.
Natürlich trauere ich immer noch, ich glaube auch nicht, dass sich das in absehbarer Zeit ändern wird. Die Trauer ist ein Teil von mir und so habe ich es auch akzeptiert. Würde der Verlust nicht schmerzen hätten sie mir doch nichts bedeutet, oder? Ich denke an sie, ich weine, ich schreibe gelegentlich darüber (wie jetzt), ich rede auch manchmal darüber. Nur gibt es nicht viele Menschen, die mit dem Thema Tod etwas zu tun haben wollen, die meisten ziehen sich zurück und schweigen. Oft gerade die, von denen man sich am meisten Unterstützung erhofft hat. Oder ihre Anteilnahme ist nur oberflächlich, sie geben nichts von sich selbst dabei. Auch das tut weh. Das ein oder andere habe ich zu einem Gedicht verarbeitet.
Vielleicht sollte ich noch sagen, dass ich 36 Jahre alt bin, also doch deutlich älter als Du
. Diese Ereignisse (mit einigen anderen zusammen) haben mich reifer gemacht, erwachsener. Ich lebe heute bewußter, mit viel mehr Verantwortung für mich und andere. Mein Blickwinkel hat sich verändert, meine Ansprüche (an mich und andere) sind zum Teil gestiegen, zum Teil gesunken, ich vertraue nicht mehr so leicht auf andere. Ich bin stärker und schwächer zugleich. Anders eben.
Ich kann Dir nicht sagen, wie Du mit dem Tod umgehen kannst, sei es nun der Tod Deiner Freundin oder der mögliche Tod Deines Bruders. Das ist etwas, wo jeder seinen eigenen Weg finden muss, da gibt es kein allgemein gültiges Rezept (wie eigentlich für das Wenigste). Eine gute Bekannte ist wegen dem Tod ihres Vaters drei Jahre zur Psychotherapie gegangen, trotzdem sie Mann, Sohn und Freunde hat. Sie war stark genug sich einzugestehen, dass sie Hilfe braucht und hat sie sich geholt. Sie war stark genug sich ihre Schwäche einzugestehen, etwas was die wenigsten können. Ich auch nicht unbedingt. Das war ihr erster Schritt in die richtige Richtung. Und dafür achte ich sie immer noch sehr hoch. Deswegen mußt Du Dich nicht schämen, wenn Du mit den Ereignissen in Deinem Leben nicht alleine klar kommst. Schämen mußt Du Dich nur, wenn Du zu schwach bist, Dir Hilfe zu holen, wenn Du aufgibst. Wenn Du unter Deiner Situation leidest, aber nicht bereit bist etwas dafür zu tun, dass sie sich ändert.
"Kann denn jemand tapfer sein, der Angst hat?" - "Nur wer Angst hat kann tapfer sein!" (frei nach: "Die Erben von Winterfell")